Bericht über die Tagung "Neues Denken - Jüdisches Denken. Eine Retroperspektive"
Anlässlich des 120. Geburtstags des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig veranstaltete die Hermann-Cohen-Akademie für Religion, Wissenschaft und Kunst eine internationale Tagung zum Thema „Neues Denken – Jüdisches Denken. Franz Rosenzweig zum 120. Geburtstag. Eine Retro-Perspektive“ in der Evangelischen Akademie Arnoldshain vom 28. Juni bis 1. Juli 2007.
In ihrem eröffnendem Vortrag beschrieb Prof. Dr. Eveline Goodman-Thau, Direktorin der Hermann-Cohen-Akademie, das Kerninteresse der Tagung:
„Die Annahme, dass Rosenzweigs Werk primär in den historischen Kontext der westlichen philosophischen Tradition verstanden werden könnte, wird zunehmend in Frage gestellt, da diese Tradition eine Entwicklung von einer historischen zu einer hermeneutischen Philosophie aufweist, in deren Folge die Problematik des Übergangs von Religion und Moderne nicht mehr nur die Kritik des Systems, sondern vielmehr auch die Einbeziehung der verschiedenen religiösen Tradition erfordert, denen das säkulare Denken entstammt. Es geht dabei nicht bloß um eine Verbindung zwischen Theologie und Philosophie im klassischen Sinn, sondern um neue Fragestellungen. Immanuel Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1794) ist signifikant unterschieden von Hermann Cohens „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ (1919). Die Quellen des Judentums haben eine andere Verbindung zwischen Religion und Vernunft hervorgebracht, als die aus dem Historismus und der westlichen Aufklärung entstandene. Im Rückblick können wir beobachten, dass Rosenzweigs Versuch eine Metaphysik zu entwickeln, wegweisend und einzigartig darin ist, dass er nicht nur mit hegelianischer Dialektik und dem deutschen Idealismus bricht, sondern zugleich auch das zeitgenössische Denken mit neuen Vorstellungen von der Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt konfrontiert. [...] Rosenzweig stürzt das Gebäude der westlichen Tradition von Iona bis Jena aus säkularer und religiöser Perspektive um, und befragt das bisherige Verständnis von Geschichte, Sprache und Selbst. Darum ist es auch so, dass diese Konferenz die Bedeutung dieses Durchbruchs thematisieren möchten, den wir eigentlich erst jetzt nach 20 Jahren, nachdem wir die Postmoderne bereits verlassen haben und wieder tief in der Moderne sitzen und diese Themen besprechen, erst uns wirklich neu realisieren beginnen und die von ihm aufgeworfenen Fragen, die verbunden sind mit der philosophischen Revolution und dem intellektuellen Leben in Deutschland in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, an dem sich zahlreiche jüdische Denker beteiligten und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Philosophie und Hermeneutik. Man muss verstehen: wenn die Shoa nicht stattgefunden hätte, hätten wir die Schüler von Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Martin Buber gehabt. Hier in Deutschland – das sage ich immer wieder meinen Studenten in Deutschland – ihr seid die einzigen, die diese Bücher in der Ursprache, in der deutschen Sprache lesen können, die aus einer hebräischen Sprache ‚eingedeutscht’ sind.“
Die Vorträge namhafter Philosophen aus Europa, Israel und den USA werden im Rahmen der Reihe Studien der Hermann-Cohen-Akademie zu Religion, Wissenschaft und Kunst, herausgegeben von Eveline Goodman-Thau im Universitätsverlag C. Winter Heidelberg (2008) veröffentlicht.
Die fünfte „Hermann-Cohen-Medaille für Jüdische Kulturphilosophie 2007/5767“ wurde an den 1929 geborenen Heidelberger Philosophen Prof. Dr. Reiner Wiehl verliehen, der bereits von Beginn an mit der Hermann-Cohen-Akademie verbunden ist. Die erste wissenschaftliche Tagung der HCA fand 1999 zu Ehren seines 70. Geburtstags in Buchen statt (Eveline Goodman-Thau (Hg.), Zeit und Welt. Denken zwischen Philosophie und Religion, Heidelberg 2002).
In ihrer Grußrede „Vom Sein und die Ordnung der Welt – Reiner Wiehl auf der Suche nach dem Subjekt“ betonte Eveline Goodman-Thau, dass Reiner Wiehls Arbeiten zum jüdischen Denken Hermann Cohens und Franz Rosenzweig in den Zusammenhang des letzten Teils der Geschichte des deutschen Judentums, das durch die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus ausgelöscht wurde, gehören. Das und zwischen „Deutschtum und Judentum“ war für Hermann Cohen nicht irgendein Thema, es wurde ihm in seinem späten Leben unter dem Eindruck des wachsenden Antisemitismus der Jahrhundertwende zu einer brennenden Frage. Dieses und hat mich bewegt, vor nun nahezu zehn Jahren die Hermann-Cohen-Akademie in Buchen zu begründen. Ihr Vorgänger, Herr Dr. Brötel, sagte: sie haben ein Projekt, hier ist das Haus. Und Sie, Herr Brötel, haben dies seitdem und weiterhin unterstützt und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar, denn dies alles ist nicht selbstverständlich für mich. Die Gründung einer freien Akademie am Ende des 20. Jahrhunderts zum 80. Todestag dieses herausragenden jüdischen Denkers Hermann Cohen 1998 ist ein Akt der Erinnerung und der Erneuerung, in dem sich Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart begegnen. Sie erinnert an die lebendige Präsenz blühender jüdischer Gemeinden in allen Teilen Deutschlands am Anfang des letzten Jahrhunderts, von denen nur noch Spuren zu entdecken sind, und ist zugleich ein Neuanfang. Im Versuch ein neues Europa zu gestalten wird es immer deutlicher, wie tief das Trauma der Zerstörung des Judentums als lebendige Tradition in Europe viele Menschen, besonders junge Menschen, tief bewegt. [...] Die Hermann-Cohen-Akademie hat sich etwas zur Aufgabe gestellt, was für mich von Anfang an der Grund war, warum ich überhaupt einen Fuß in Deutschland gesetzt habe: ich möchte die Überschriften „Opfer“, “Täter“ und „Antisemitismus“ vom Judentum herunternehmen, damit wir diese Tradition als eine der Traditionen, die Europa geprägt haben, wieder ohne Schatten und mit Stolz und mit Würde besprechen können. Wir als ältere Generation müssen es der jüngeren Generation ermöglichen, ein historisches Bewusstsein zu entwickeln, das einerseits von der Zerstörung weiß, aber auch weiß, dass es eine Erneuerung gibt. Zuhause in Israel, wo meine Familie, meine fünf Kinder und 17 Enkelkinder leben, möchte ich dem hinzufügen: Israel hat das Hinterland Europa verloren. Wir sind in einem arabischen Raum gelandet, wo der politische Konflikt nach 60 Jahren immer noch da ist. Wir haben Europa als Hinterland verloren, aber vielleicht hat Europa auch uns als geistige Stütze nötig. Vielleicht sind unsere politischen Interessen unterschiedlich, aber menschlich müssen wir diese Brücken bauen, über unsere Personen, über diese Veranstaltung und unsere Interessen und Diskussionen hinaus, weil wir einander nötig haben.“
Pfr. Dr. Hermann Düringer, Leiter der Ev. Akademie Arnoldshain, betonte in seiner Begrüßung, dass die Akademie nunmehr zum wiederholten Male Ort der Verleihung der Hermann-Cohen-Medaille sein darf, wofür er besonders dankbar ist, denn die Ev. Akademie wird weiterhin ihren Beitrag dazu leisten, dass Juden überall auf der Welt und in Israel einen Rückhalt hier in Europa haben.
Dr. Achim Brötel, Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises und zweiter Vorsitzender der Hermann-Cohen-Akademie betonte, dass man zwar „Kapital beschaffen, Fabriken bauen kann, aber Menschen muß man gewinnen. Sie, verehrte, liebe Frau Prof. Goodman-Thau, haben durch Ihre unermüdliche Arbeit schon viele Menschen gewinnen können. Das ist auch der alles entscheidende Ansatz – der Weg, der uns alle in eine hoffentlich gute Zukunft führen wird. Dafür will ich Ihnen an dieser Stelle auch einmal ganz herzlich danken. Jede und jeder von uns hat ja seine eigene, ganz individuelle Geschichte und Prägung. Und trotzdem ist da etwas, was uns alle verbindet. Dieses Einende wieder sehr viel mehr in den Mittelpunkt zu stellen, ja es vielfach überhaupt erst wieder zu entdecken und herauszuarbeiten, ist sicher eine der vornehmsten Zielstellungen der HCA.“
Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik sagte in seiner Laudatio: „Die Wahl von Reiner Wiehl ehrt die HCA in besonderer Weise, denn Reiner Wiehl hat nicht nur zur Wiederbelebung des Werkes von Hermann Cohen beigetragen, sondern ist wie kein anderer der heutigen Denker dem Denken Cohens sehr nahe. Und er hat teilweise und zeitweise die Ausgrenzung aus der Nation, der er sich wie Cohen verbunden fühlt, genauso schmerzhaft wie dieser erfahren.“
Reiner Wiehl bedankte sich in seiner Festrede: „Dass mir hier im Rahmen dieses großen und internationalen Franz Rosenzweigs Kongresses die Hermann-Cohen-Medaille für Jüdische Kulturphilosophie verliehen wird, ist für mich eine große Freude und Ehre – dies nicht nur als übliche Formel des Dankes, sondern Ausdruck einer mich eigentümlich berührenden lebensgeschichtlich Bedeutsamkeit. [...] Was ist das Jüdische einer heutigen Philosophie der Kultur, soweit Philosophie nicht nur jüdisch ist, sondern Sache der Menschheit? [...] Ich kann am besten auf dem Weg, indem ich das Persönliche mit dem philosophischen Gedanken verbinde, dies zum Ausdruck bringen. Indem ich mich im Rahmen dieser Verbindung bewege, befinde ich mich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Franz Rosenzweigs „Neuem Denken“, welches für den „Stern der Erlösung“ eine neue Idee des thematischen Philosophierens eingefordert hat, dass das System der Philosophie in seinem Zentrum den Menschen suchen müsse, den einzigen lebendigen Menschen, dessen Lebensspuren sich in den Gedanken systematischen Philosophierens entdecken lassen müssen. Spuren, in denen das Allgemeine der Philosophie die Bewährung im unverwechselbaren Leben findet.“
Die Festschrift zur Verleihung der Hermann-Cohen-Medaille erscheint in der Reihe „Rimonim“ im Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg.
Die berühmte Pianistin Veronica Jochum von Moltke (New England Conservatory, Boston), die bereits am Freitagabend ein Konzert mit Werken von Mozart, Walter Braunfels, Beethoven und Oswald Golijev gab, bereicherte den feierlichen Abend mit ihrer unvergleichlich farbreichen Interpretation Bachs wie auch der ersten und frühen Kompositionen Mozarts.
Die Reden zur Verleihung der Hermann-Cohen-Medaille werden in der Reihe "RIMONIM", hg. Eveline Goodman-Thau im Universitätsverlag C. Winter Heidelberg veröffentlicht.
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Ralf Balke, freier Journalist, berichtet über die Tagung. Dieser Bericht erschien in veränderter Form ebenso in der Jüdischen Allgemeinen vom 12.7.2007 (Link folgt):
“Das Jüdische ist meine Methode, nicht mein Gegenstand”
Eine Konferenz würdigt den deutsch-jüdischen Denker Franz Rosenzweig
“Wir als Juden haben einen ganz wesentlichen Anteil an Europas Geistesgeschichte.” Mit diesen klaren Worten eröffnete Professor Dr. Eveline Goodman-Thau eine mehrtägige Konferenz, die das Leben und das Werk des vor über 120 Jahren in Deutschland geborenen Philosophen Franz Rosenzweig in den Mittelpunkt rückte. “Hier hat die Moderne für uns angefangen. Eigentlich könnte ich zur Claims Conference gehen, um ein >geistiges Grundstück< zurückzufordern“, so die Direktorin der Hermann-Cohen-Akademie, eines in Buchen im idyllischen Odenwald gelegenen >Think Tanks<, der sich der jüdischen Philosophie, Religions- und Kulturwissenschaften in all ihren Facetten verpflichtet sieht. “Und das jüdische Denken in die europäische Geistesgeschichte eingebracht zu haben, genau darin liegt der Verdienst und die Bedeutung der Person Franz Rosenzweig”, betont Goodman-Thau.
Franz Rosenzweig wuchs als assimilierter Jude auf, der in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts seinen ganz persönlichen Ort in der christlich geprägten Kulturlandschaft in Europa suchte. Dabei liebäugelte er sogar kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges mit dem Gedanken, ebenso wie zuvor seine beiden Cousins und einige enge Freunde zum evangelischen Glauben zu konvertieren, machte seinen Entschluss aber letztendlich wieder rückgängig. Rosenzweig beschließt nicht nur Jude zu bleiben, sondern verzichtet ganz bewusst, nachdem er bei Friedrich Meinecke seine Doktorarbeit über Hegel und den Staat abgeschlossen hatte, auf eine akademische Karriere im klassischen Sinne. Er engagiert sich in dem >Freien Jüdischen Lehrhaus<, einem Erwachsenenbildungsprojekt im Frankfurt der frühen zwanziger Jahre.
“Franz Rosenzweig lässt sich nur in der Komplexität der Spannungsfelder von Judentum sowie deutscher Identität, Kultur und Intellektualität verstehen”, lautet denn auch die Einschätzung von Professor Dr. Yehudit Kornberg Greenberg aus Florida. “Er zitiert die Bibel mindestens genauso oft wie Goethe.“ Für sie macht das Faszinierende an Rosenzweig sein nuanciertes Konzept von >Liebe< aus. “Judentum wird immer als reine Gesetzesreligion verstanden, während das Christentum als Religion der Liebe dargestellt wird”, so Kornberg Greenberg. “Genau diese konventionelle Wahrnehmung stellte er auf den Kopf.” Für die Herausgeberin der demnächst erscheinenden >Encylopedia of Love in World Religions< ist Rosenzweig der erste moderne jüdische Philosoph, der es schafft, den Begriff >Liebe< als ein wesentliches Element von jüdischer Spiritualität und Judentum herauszuarbeiten. Zugleich erkannte er das Christentum als gleichwertig mit dem Judentum an - für einen dezidiert jüdischen Denker etwas Einzigartiges. Nach Auffassung von Dr. Hermann Düringer, dem Direktor der Evangelischen Akademie Arnoldshain, lieferte er damit die Basistexte für den jüdisch-christlichen Dialog.
Professor Ephraim Meir von der Bar Ilan Universität in Israel kann all das nur bestätigen. “Rosenzweig war ein deutscher Jude, der die Philosophie genauso wie das jüdische Leben in Deutschland erneuern wollte. Dafür schöpfte er tief aus den klassischen jüdischen Quellen und verwendete traditionelle jüdische Begriffe, um seinen philosophischen Ideen Ausdruck zu verleihen und eine neue Vernunftkritik zu entwerfen.” Dadurch geriet er in Konflikt mit den damals vorherrschenden Ideen des Deutschen Idealismus. Denn: “Philosophie hat nichts mit Deutschtum zu tun”, bringt es Dr. Luca Bertolini aus Turin auf den Punkt. Nicht ohne Grund trägt die Konferenz in der Evangelischen Akademie Arnoldshain deshalb auch den Arbeitstitel >Neues Denken - Jüdisches Denken<. “In seinem Haupt- und Meisterwerk >Der Stern der Erlösung< denkt er nicht nur die Grundlagen der westlichen Tradition neu, sondern wie sich herausstellt denkt er sie jüdisch”, bemerkt dazu Goodman-Thau. Das berühmte Rosenzweig Zitat “Das Jüdische ist meine Methode, nicht mein Gegenstand” bildete denn auch inhaltlich den roten Faden der Beiträge auf der Veranstaltung.
“Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Shoah wird es immer deutlicher, dass wir im Kontext des jüdischen Erbes in Europa nicht mehr allein unter den Stichwörtern >Opfer< und >Täter< reden können, sondern weit umfassender den jüdischen Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte bewusst zu machen und zu bedenken haben”, resümiert Goodman-Thau. Und dass dieses Erbe eine weltweite Ausstrahlung erfuhr, davon konnte man sich auf der Konferenz ein beeindruckendes Bild machen. Experten aus Nordamerika, ganz Europa und Israel waren eigens angereist - ein Indiz dafür, dass das “Jüdische Denken” im Sinne Franz Rosenzweigs auf enorme Resonanz gestoßen ist und auch in der Zukunft im philosophischen Denken einen wichtigen Platz einnehmen wird.
Ralf Balke, 2. Juli 2007
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